Aksum: Ein zweites Zion in Afrika

Aksum: Ein zweites Zion in Afrika
Aksum: Ein zweites Zion in Afrika
 
Aksum, griechisch Axomis, ist der noch ungedeutete Name der Hauptstadt des antiken Äthiopien; es ist wahrscheinlich, dass sich auch Volk und Land so bezeichneten. Der Name Äthiopien war in der Antike für die dunklen Völker und deren Länder südlich des 1. Nilkatarakts reserviert, dann insbesondere für das Reich von Meroe. Nur einmal nannte ein Herrscher von Aksum, Ezana, sein Reich (griechisch) »Aithiopia«, nachdem er zuvor einen erfolgreichen Feldzug nach Meroe unternommen hatte. Erst mit der Christianisierung im 4. Jahrhundert n. Chr. bürgerte sich dieser Name im heutigen Sinn ein: Das (hebräische) Kusch der Bibel, das ebenfalls Völker und Länder im Süden Ägyptens bezeichnete, gab die Septuaginta, die griechische Bibelübersetzung, mit »Aithiopia« wieder. Indem die christlichen Aksumiter die betreffenden Stellen auf sich bezogen, wurde der neue Name, in der äthiopischen Form Ityopya, zum Synonym des christlichen Reiches von Aksum. Er ersetzte einen anderen alten Landes- und Volksnamen — sehr wahrscheinlich ein Teilreich von Aksum —, der in der Volkssprache des Nordens (Tigrinya) und bei den Arabern weiterlebt: Habascha, wovon sich unser Wort Abessinien herleitet, dem also ursprünglich nichts Abwertendes anhaftete; dies kam erst durch eine arabische Volksetymologie (»zusammengewürfeltes Volk«) und die bewusste Verwendung von »Abessinien« mit politischen Absichten in diesem Jahrhundert.
 
 Die Anfänge der äthiopischen Geschichte
 
Die Geschichte Äthiopiens wird in ihren Grundzügen stark von den geographischen und klimatischen Bedingungen des Landes bestimmt. Das Hochland mit seinen schroffen Abfällen, besonders im Norden und Osten, macht den Raum insgesamt zu einer natürlichen Festung, die, im Durchschnitt weit mehr als 2000 m hoch, von den umgebenden Tiefländern immer nur schwer zu erreichen war. Die Zerteilung durch Flusstäler und Schluchten in einzelne, besonders während der Regenzeit verkehrsmäßig isolierte Hochflächen (Ambas) und Kammerlandschaften förderte die Zersplitterung in kleinere politisch-gesellschaftliche Gebilde, erschwerte also die Bildung größerer, zentral regierter Einheiten.
 
Das ausgeprägte Relief verleiht Äthiopien eine Abfolge verschiedenster Klima- und Vegetationszonen, von der trocken-heißen, wüstenhaften Tiefebene über tropische und gemäßigte Zonen bis zur Hochgebirgszone. Funde von Hominiden (die berühmte Lucy) im Afargebiet beweisen, dass Äthiopien wie das gesamte Nordostafrika vor mehreren Millionen Jahren eine Wiege der frühen Menschheit gewesen ist.
 
Äthiopien lag im Bogen der frühen Kulturen und Hochkulturen zwischen Ägypten und Nubien auf der einen, dem Horn von Afrika bzw. der Somalihalbinsel auf der anderen Seite. Dieser Bereich bildete in der Jungsteinzeit einen kulturellen Großraum, für den die Entwicklung von Landwirtschaft und Rinderzucht, aber auch die Einteilung in soziale Altersklassen, der »Verdienstkomplex« (an bestimmte Taten gebundene soziale Stellung des Mannes) sowie ein sakrales Königtum charakteristisch waren; über die Entstehung dieser Kultur und ihre Beziehungen zu anderen Kulturräumen ist bisher wenig bekannt. Prähistorische Funde reichen bis in die Zeit um 2500 v. Chr. zurück.
 
Das Gold- und Weihrauchland Punt der alten Ägypter — über eine Expedition dorthin unter Königin Hatschepsut im 15. Jahrhundert v. Chr. sind wir durch die Fresken von Deir el-Bahari ausführlich informiert — ist nicht mit Sicherheit zu identifizieren. Die Ansichten schwanken zwischen dem ganzen Horn von Afrika (bis Somalia) und dem Südsudan (Wadi Barka). Sicher ist nur ein lebhafter Handelsverkehr, der letztlich den ganzen Raum des Roten Meeres, ja vielleicht sogar den Indischen Ozean einbezog: Waren wie Gold, Tierfelle, Weihrauch, Mineralien (Antimon, Lapislazuli), Hölzer, aber auch exotische Tiere und menschliche Zwerge wurden gegen Erzeugnisse ägyptischen Kunsthandwerks eingetauscht. Wir hören von Königen des Landes Punt und erfahren von Pfahldörfersiedlungen. Wenige Funde ägyptischer Gegenstände in Äthiopien belegen, dass Punt wohl auch Äthiopien mit einschloss. Gegen Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. wurde dieser Handel in einer Dürreperiode unterbrochen. Vielleicht war dies der Zeitpunkt, in dem sich Südarabien mit seinen Kamelkarawanen in den Handelsstrom einschaltete und damit ebenfalls Interessen an Äthiopien entwickelte.
 
Vorläufer Aksums: Die Föderation von Saba und Daamat
 
Die Besiedlung Äthiopiens durch Sabäer (Südaraber) vom Jemen her bzw. deren Einfluss auf Landwirtschaft, Architektur (Dämme, Bewässerungsanlagen, Tempel) und Kultur (Schrift und zum Teil Sprache) etwa ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. ist zweifelsfrei belegt. Die bisher bekannten Stätten reihen sich an der Nord-Süd-Straße am östlichen Rand des Hochlandes auf. Allerdings sind das Ausmaß und die Art dieser Durchdringung unklar. Von der früheren Ansicht, die südarabischen Semiten, die in geschlossenen Gruppen gekommen waren, seien in umfassender Weise als Kulturbringer und Kolonisatoren anzusehen, rückt man langsam ab. Somit ist auch die Ansicht, das Geez, die klassische semitische Schrift- und Kultursprache Äthiopiens bis ins 20. Jahrhundert, habe sich aus dem Kontakt von eingeführtem Südarabisch mit einheimisch-kuschitischen Sprachen entwickelt, umstritten. Gegen diese klassische These spricht neben dem rein sprachlichen Befund der relativ kurze Zeitraum von knapp 500 Jahren für eine solche Entwicklung, vor allem aber die Eigenständigkeit der äthiopischen Kultur, auch unter sabäischem Einfluss, von Anfang an. Nach nicht unumstrittenen Methoden der »Spracharchäologie« (Glottochronologie und Lexikostatistik) verlegen manche Forscher deshalb die Entwicklung der semitischen Sprache in Äthiopien bereits in das 2. Jahrtausend v. Chr. Über die Gruppen oder Völker (?), die zu dieser Zeit semitische Idiome nach Äthiopien brachten, wissen wir praktisch nichts; sie gingen großenteils ethnisch wie kulturell in der kuschitischen Umgebung in einer neuen Mischkultur auf, hinterließen aber als bleibendes Erbe ihre ungeheuer vitalen semitischen Sprachen, die sich kontinuierlich auf Kosten der ursprünglichen kuschitischen Sprachen ausdehnten, von diesen aber selbst massiv verändert wurden.
 
Im 5./4. Jahrhundert v. Chr. gab es nach sabäischem Vorbild zunächst einen Mukarrib, einen Föderationsfürsten (nicht Priesterfürsten, wie noch oft zu lesen ist), von Daamat und Saba, beides wohl afrikanisch-äthiopische Territorien, dann, namentlich belegt, vier Könige, die sich als Seraan und Agaziyan bezeichneten. In Letzterem erkennen wir die alten Namen der Sprache und des Volkes der Äthiopier, Geez und Agaazi (vielleicht »die Freien«), die sich bis heute erhalten haben. Ser und das davon abgeleitete Adjektiv Seraan bedeuten in der Bibelübersetzung des 5. Jahrhunderts n. Chr. Griechenland bzw. Griechisch. Die beiden (Teil-)Königreiche zeigten trotz kulturellen und zivilisatorischen Einflusses aus Südarabien von Anfang an ein äthiopisches Gepräge. Dies beginnt mit den sicherlich rein äthiopischen Namen der Herrscher, setzt sich fort in einem nur in Äthiopien bezeugten Götterhimmel (neben einigen sabäischen Gottheiten), findet seinen Ausdruck zum Beispiel im Stil, etwa beim ganz gegen sabäische Sitte selbstbewussten Gebrauch der ersten Person (»Ich, der König. ..«) und vor allem auch in der Rolle der Frau, die als Königin wie selbstverständlich in den Inschriften genannt wird.
 
Ursprungs- und Gründungslegenden
 
Die Tradition hat andere Antworten auf die Frage nach dem Ursprung bereit. Zunächst eine alte Drachensage: Der Held Angabo befreit Äthiopien von der drückenden Herrschaft eines als Gott verehrten Untiers, dem auch Menschen geopfert werden. Er wird König und seine Tochter Makeda, die Königin von Saba — die hier als Äthiopierin gilt, in der altsüdarabischen Tradition jedoch als Königin der Sabäer —, folgt ihm nach. Als sie von Salomos Weisheit hört, reist sie nach Jerusalem und zeugt, durch Salomo überlistet, mit ihm einen Sohn, Menelik (Menilek), den Erstgeborenen Salomos, der in Äthiopien aufwächst, erst später seinen Vater in Jerusalem besucht und bei der Abreise die echte Bundeslade mit den Gesetzestafeln stiehlt. Mit zwölf Edlen aus dem Stamm der Leviten kehrt er nach Äthiopien zurück, wo er das neue, zweite Jerusalem und Zion begründet, das bis zum Jüngsten Tage Bestand haben wird.
 
Ähnliche Ursprungssagen haben auch die Falaschen, die Juden Äthiopiens, die von einer Schwester Moses und Aarons abzustammen glauben und somit eine deutlich noch ältere, bevorrechtigte Abstammung vom alten Israel beanspruchen.
 
 Aksum, antike Handelsmetropole und christliches Zentrum
 
Die äthiopischen Königslisten, die uns eine Aufzählung der Könige »von Adam an« vorlegen, verlassen auch für die aksumitische Zeit das Reich der Legende nicht: Die Namen der Könige, unter denen das Christentum angenommen wurde, lauten hier Abreha (»der das Morgenlicht des Glaubens brachte«) und Asbeha (»der den Morgen des Glaubens anbrechen ließ«). Diese »Funktionsnamen« bezogen sich ursprünglich nur auf Gott als Handelnden, wurden aber von der Tradition als Menschennamen missverstanden und schließlich auf Personen übertragen, die den christlichen Glauben nach Äthiopien gebracht haben sollen. Münzlegenden und Inschriften, die einzigen zuverlässigen Quellengattungen, überliefern uns Ezana als den Herrscher, unter dem Aksum, zumindest offiziell, christlich wurde; griechische Kirchenhistoriker nennen Aizanas und dessen Bruder Schaizanas.
 
Aksum lag am Schnittpunkt von Handelsstraßen in Nord-Süd- und Ost-West-Richtung in landwirtschaftlich günstigem Gebiet, freilich nicht im alten Zentrum der Saba-Daamat-Föderation im Osten. Das entstehende Reich verleibte sich zwar die alten Reiche ein, neue Zentralregion aber war das Gebiet um Aksum, das nach Ausweis seiner Stadtanlage und Stadtarchitektur unangefochtener Mittelpunkt eines Reiches war. Es gab keine Verteidigungsanlagen; die religiösen Bauten wie Tempel und Stelen verteilten sich wie die Paläste und Grabanlagen ungeschützt und großzügig über ein weites Areal.
 
Über die innere Struktur des Reiches können wir nur spekulieren. Vielleicht handelte es sich um eine Föderation von Teilreichen, deren Fürsten den »König der Könige« immer wieder neu aus ihrer Mitte wählten. Dafür sprechen die wechselnden Beinamen (Dynastien? Herkunftsbezeichnungen?) der aksumitischen Könige in Inschriften und auf Münzen. Dagegen spricht die deutlich erkennbare, stabile Rolle Aksums als Reichsmittelpunkt mit hoch entwickelter Infrastruktur, die eher den Sitz einer lokalen Dynastie anzeigt. Diese könnte neben anderen Dynastien die Rolle des »Primus inter Pares«, des Ersten unter Gleichen, eingenommen haben.
 
Auch über die Gesellschaftsordnung wissen wir wenig. Äthiopische Inschriften aus dem 3. Jahrhundert belegen freilich eine entwickelte Rechts- und Sozialstruktur, die in manchem der des europäischen Mittelalters ähnelt. Wir hören zum Beispiel von Gesetzen, Totengedenkfesten, Abgaben für Opferhandlungen und Steuern. Kennzeichnend tritt in diesen Texten wie auch in den Königsinschriften der äthiopische Hang zur Genauigkeit, zu exakten Zahlen hervor, so ganz im Gegensatz zu den oft fantastischen Zahlenangaben in der Tradition anderer orientalischer Kulturen.
 
Die Religion der vorchristlichen Zeit kennt Gestirns-, Meeres- und Erdgottheiten, deren Namen teils griechisch, teils äthiopisch überliefert sind. Hauptgott der Dynastie war der Kriegsgott Mahrem (»Krieger«?, mit dem griechischen Ares gleichgesetzt). Religiöse Inschriften privaten Charakters sind leider nicht bekannt, sodass wir über populär verehrte Gottheiten nichts wissen. Ebenso wenig gibt es Nachrichten über den Kult, abgesehen von den Dankopfern des Königs nach erfolgreichen Feldzügen. Das Totengedenken war ausgeprägt. Die berühmten Obelisken — oder an ihrer Stelle palastähnliche Mausoleen — stehen immer im Zusammenhang mit unterirdischen Grabanlagen.
 
Siedlungsgeschichte und Quellen
 
Nach ersten archäologischen Grabungsbefunden lässt sich die Siedlungsgeschichte Äthiopiens in verschiedene Phasen gliedern: Auf eine frühe Zeit weiträumiger Weilersiedlung und extensiver Landnutzung folgt eine Periode der Konzentration und größerer Agglomerationen, begleitet von intensiver Landwirtschaft, zum Teil mithilfe von Bewässerung (etwa 7. bis 4. Jahrhundert v. Chr.). Dies würde der Zeit von Saba und Daamat entsprechen. Nach einer Zwischenzeit (Verfall staatlicher Strukturen?) folgt etwa ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. wieder, auf höherer Stufe, eine Phase intensiverer Besiedlung, die mit dem Aufkommen und der Blüte des Reichs von Aksum gleichzusetzen ist. Nach dieser bis ins 8. Jahrhundert n. Chr. dauernden Periode wird die Metropole verlassen; sie verfällt, ohne dass ein gewaltsames Ende (Plünderung oder Eroberung) bekannt geworden wäre.
 
Die Quellen ergänzen diese eher abstrakte Beschreibung eines »Strukturwandels in längeren Zeiträumen« nur bruchstückhaft: Das Handelsreisebuch »Periplus Maris Erythraei«, eine griechische Beschreibung der Häfen und Handelswaren des Roten Meeres, beschreibt um 60 n. Chr. den Hafen Adulis und die Metropole Aksum (erste Namensnennung in einer Quelle) mit ihrem Herrscher Soskales, der als zwar geizig, aber griechisch gebildet hingestellt wird. Letzteres deutet auf eine vielleicht schon länger zurückreichende Hellenisierung des Landes hin, wie auch die aksumitischen Königsinschriften neben der alten Prestigesprache Sabäisch und der neuen Nationalsprache Äthiopisch (Geez) auch von Anfang an Griechisch verwenden. In manchen Fällen liegen Trilinguen, Fassungen in drei verschiedenen Sprachen, vor, ein Zeugnis für die Weltoffenheit und die vielfältigen wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte des Handelsimperiums von Aksum.
 
In Griechisch abgefasst ist die in Dakki Mahari nordöstlich von Asmara gefundene, schwer datierbare, aber frühe Inschrift des »Königs der Könige von Aksum, des großen Sembruthes« aus dessen 24. Regierungsjahr. Der Name erschien bisher nicht auf den Münzen und ist auch in der äthiopischen Tradition unbekannt.
 
Der nächste bekannte König von Aksum ist Gadira, der sich auf einem 1956 gefundenen Bronzeobjekt (Kultaxt?) als Stifter verewigt hat. Er ist wohl identisch mit jenem König, der nach Ausweis sabäischer Inschriften im 3. Jahrhundert auf der anderen Seite des Roten Meeres, im Jemen, militärisch eingriff und dort Militärkolonien und Garnisonen unter dem Kommando seiner Söhne einrichtete. Diese Verbindung sollte bis zum Aufkommen des Islams bestehen bleiben.
 
Das 4. Jahrhundert belegt eine expansive Politik und Kriegszüge von Aksum aus nach Westen, die wohl bis Meroe führten, zu dessen Untergang Aksum sicherlich beitrug, jedenfalls nach der Aussage einer dort gefundenen griechischen Inschrift eines aksumitischen Königs (der bereits erwähnte Ezana?). Weitere Züge im äthiopischen Raum, aber auch nach Südarabien, sind für die gleiche Zeit belegt durch die »Adulitana«, eine von dem griechischen Geographen Kosmas Indikopleustes kopierte Inschrift aus Adulis, und durch erhaltene Inschriften des Königs Ezana. Seine ausführliche Titulatur bezieht alle diese Territorien mit ein. Zum ersten Mal wird nun der Äthiopienname auf Aksum, den Erben Meroes, übertragen.
 
Frumentios und Abba Salama, der »Bringer des Lichts«
 
In das 4. Jahrhundert, etwa die Zeit um 330 n. Chr., fällt auch die Christianisierung Aksums unter dem »Konstantin« Äthiopiens. Der Wechsel der Religion ist an den Symbolen der Münzen abzulesen. Nachrichten der Kirchenhistoriker sprechen von einem Kaufmann aus Tyros, der vor Adulis Schiffbruch erleidet. Zwei junge Männer seiner Begleitung werden gerettet und am Königshof (Aksums?) aufgenommen, wo sie, vielleicht als Prinzenerzieher, ihren christlichen Glauben predigen. Nach ihrer Heimkehr entschließt sich der eine, Frumentios, versehen mit der Bischofsweihe, als Missionar und Oberhaupt einer neuen Kirche nach Äthiopien zurückzukehren. Die äthiopische Legende kennt Abba Salama, den »Bringer des Lichts«, der den äthiopischen König und seinen Hof bekehrt. Klar ist die Anbindung der entstehenden — monophysitischen — äthiopischen Kirche an das (koptische) Patriarchat von Alexandria (bis 1959). Ebenso klar erkennbar sind allerdings Einflüsse in Theologie, Mönchsleben und Kunst aus dem syrisch-hellenistischen Raum: Im 5./6. Jahrhundert sollen »neun Heilige« aus Syrien oder Byzanz die Kirche und das Klosterleben reorganisiert haben. In Aksum entsteht die erste Marienkathedrale auf den Fundamenten eines heidnischen Tempels, die heute noch zu sehen sind. Diese Kathedrale, mehrfach zerstört und wieder aufgebaut, birgt nach äthiopischer Tradition die von Menelik aus Jerusalem entführte echte Bundeslade mit den Gesetzestafeln. Sie ist, gleichbedeutend mit Zion, bis heute das Symbol des christlichen Äthiopien.
 
Der Beschützer der Christenheit: Kaleb und die Christen von Nagran
 
Politisch blieb Aksum ein Verbündeter von Byzanz gegen die Expansionsbestrebungen des (sassanidischen) Perserreichs und dessen Verbündete, die südarabischen Staaten, in denen sich auch ein politisch mächtiges Judentum ausbreitete. Die Konfrontation der Großreiche Byzanz und Persien hatte ihre Auswirkungen auf der Arabischen Halbinsel und am Roten Meer. Unter einem jüdischen König (äthiopisch Finhas, griechisch zumeist Dunaas, mit seinem richtigen sabäischen Namen Yusuf Aschar Yatar) setzten Christenverfolgungen im Jemen ein, die sich besonders gegen das aufblühende christliche Zentrum Nagran richteten. Dies veranlasste den äthiopischen König Kaleb mit dem Beinamen Ella-Asbeha (griechisch Ellesbaas oder Ellesthaios) Anfang des 6. Jahrhunderts, im Verbund mit Byzanz in seinem traditionellen Einflussgebiet, dem Jemen, einzugreifen, mit dem Nimbus eines Beschützers der Christenheit. In der Folge wurde der Jemen annektiert und einem äthiopischen Gouverneur, Abreha, unterstellt, der sich jedoch bald als »äthiopischer König des Jemen« selbstständig machte, wie seinen (sabäischen) Inschriften über eine Reparatur des Damms von Marib zu entnehmen ist. In der arabischen Legende und im Koran (Sure 105) finden sich Erinnerungen an diese Ereignisse, unternahm doch Abreha auch Kriegszüge in nordarabisches Gebiet. Die christliche Literatur der Syrer und Äthiopier hat den Märtyrern von Nagran ergreifende Bücher gewidmet.
 
Dies ist die letzte historische Nachricht über das Wirken Aksums in der Gegend, die Ende des 6. Jahrhunderts unter persische Oberhoheit kam. Münzen und wenige Inschriften belegen eine Fortdauer des Reiches (etwa bis ins 9. Jahrhundert), das aber, durch die Perser aus seiner Einflusszone am Roten Meer verdrängt, durch die daraus folgende Verlagerung seiner Handelswege und das spätere Aufkommen des Islams Orientierung und Charakter ändert.
 
 Nach dem Ende Aksums: Fortleben des christlichen Reiches
 
Das Ende Aksums ist als Ereignis nicht bekannt. Freilich, das politische Ende Aksums war weder das Ende des christlichen Reiches Äthiopien noch das Ende der religiösen und kulturellen Bedeutung Aksums. Sein Erbe zeigt sich in der Kirchen- und Klosterarchitektur besonders im Norden Äthiopiens. Theologie und Mönchtum wurzeln in den Grundlagen der ersten christlichen Jahrhunderte. In der Institution der Monarchie überlebten Ordnungen und Rituale, etwa die Königsweihe in Aksum, bis ins 20. Jahrhundert.
 
In der Zeit vom 10. bis ins 12. Jahrhundert vollzog sich eine Verlagerung des Reichszentrums nach Süden, zunächst nach Lalibela als Zentrum der neuen Zagwedynastie, dann auf das Plateau von Schoa (um Addis Abeba). Dies war getragen und ermöglicht von einer expansiven Christianisierung, deren Säulen eine blühende Klosterkultur war, wie das viele, häufig in Seen gelegene Klöster beweisen. Damit einher ging ein Wandel der wirtschaftlich-politischen Grundlagen und der Struktur des äthiopischen Reiches, der etwa mit dem Übergang vom spätrömischen zum Fränkischen Reich zu vergleichen ist.
 
Prof. Dr. Manfred Kropp
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Äthiopien im Mittelalter (12. bis 19. Jahrhundert): Christliche Insel in Ostafrika
 
 
Anfray, Francis: Les anciens Éthiopiens. Siècles d'histoire. Paris 1990.
 Brakmann, Heinzgerd: To para tois barbarois ergon theion. Die Einwurzelung der Kirche im spätantiken Reich von Aksum. Bonn 1994.
 Hammerschmidt, Ernst: Äthiopien. Christliches Reich zwischen Gestern und Morgen. Wiesbaden 1967.
 Munro-Hay, Stuart C.: Aksum. An African civilisation of late antiquity. Edinburgh 1991.

Universal-Lexikon. 2012.

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